Dehnen
Was wir als „Dehnung“ empfinden, ist nichts anderes als das Ziehen an einem Muskel, der kürzer ist, als er in einer gewünschten Position oder Bewegung sein soll. Die Verkürzung verhindert, dass sich die Knochen in größeren Radien um ihre Gelenke bewegen. Man könnte auch sagen: Die sich in Länge und Kürze verändernden weichen Teile verhindern die volle Beweglichkeit der in ihrer Länge gleichbleibenden harten Teile. In den meisten Fällen sind Muskeln, an denen wir ziehen wollen, einfach zu wenig in bestimmte Richtungen bewegt worden, haben wir uns zu lange nicht in diese Richtungen bewegt. Manchmal sorgt aber auch unbewusst verrichtete Arbeit für eine Verkürzung. Der Muskel befindet sich dann in permanenter Spannung und verbraucht unnötig Energie, er hält ständig fest, obwohl es doch für das, was wir im Moment tun, gar nicht nötig wäre. Natürlich liegt der Gedanke in beiden Situationen nahe: Etwas ist zu kurz, drum ziehe ich daran, damit es länger wird. Was soll dagegen einzuwenden sein?
Zunächst einmal ist der Begriff „Dehnen“ semantisch ungeschickt. Er vermittelt, dass wir durch Ziehen an einem elastischen Körper eine Veränderung seiner Länge im Vergleich zum Ruhezustand herstellen könnten. Allerdings, wie oben beschrieben, befinden sich die Muskeln, die wir dehnen wollen, nicht in einem entspannten Zustand, sondern in einem arbeitenden. ( * ) Statt am widerwilligen Teil von uns zu ziehen, könnten wir lernen, wie man aufhört, diesen Teil zu verkürzen. Beim „Dehnen“ lernt der Muskel nicht mehr, als sich in einer weiteren statischen Haltung zu befinden. Weder lernt er, wie er sich in Bewegung zu verhalten hat, noch lernen andere Muskeln, wie sie sich relativ zu ihm zu verhalten haben, wenn die Glieder oder der ganze Mensch sich bewegen.
Kein anderes Tier würde jemals auf die Idee kommen, sich so mechanisch zu gebrauchen wie der Mensch. Wäre es nicht zum Gackern, wenn Hund und Katze beim Spazieren oder Streunen innehielten, um gezielt einzelne Muskelgruppen zu dehnen? Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Es ist absolut notwendig, Gelenke zu öffnen, größere Radien zu suchen, Verkürzungen zu verlassen. Aber kann dieses Öffnen im erkundenden, spielerischen, verbundenen Erfahrungsraum stattfinden? In einem Raum anwesender Bewegung statt abhakender Übung?
Im Feldenkrais halten wir unsere Muskeln weder fest noch zerren wir daran herum. Wir zielen mit der Aufmerksamkeit auf die Bewegung selbst und darauf, wie wir sie machen. Mit wachsender Bewusstheit integrieren wir sämtliche Teile von uns in ein ausgeglichenes Ganzes. Die Idee ist also nicht „Zwinge Muskeln in Länge, damit sie länger werden“ sondern „Wenn Du dir klar wirst, wie Du dich gebrauchst, dann lernen dein Nervensystem und deine Muskeln, wie sie sich zu organisieren haben, um dein Skelett in die gewünschte Richtung zu bewegen." Dabei öffnen sich unsere Muskeln nicht deshalb, weil wir an ihnen ziehen, sondern weil die klarere Koordination der Bewegung Spannung dort enstehen lässt und löst, wo es gerade nötig ist. So gewinnen wir nicht nur mehr Spielraum in bestimmten Fest-Haltungen, sondern integrieren unser gesamtes Selbst für sämtliches Tun außerhalb der Stunde.
( * Der Vollständigkeit halber: Würde man an einem ganz entspannten Muskel ziehen — das heißt, an einem Muskel, der nicht verkürzt ist und dessen Länge dem maximalen Abstand der beiden knöchernen Punkte entspricht, an denen er befestigt ist; ihn also über seine im Körper maximal mögliche Länge hinaus verlängern wollen — dann würde er reißen. Auch durch zu starkes Ziehen an einem verkürzten Muskel kann man dem Gewebe (Mikro)Verletzungen zufügen. Der Begriff „Überdehnung“ ist folglich ebenso irreführend, handelt es sich doch um eine Verletzung durch zu intensives Ziehen an einem Muskel, der nicht nachlässt, während an ihm gezogen wird.
Gegen die Gewohnheit des Dehnens als Ergänzung zu anderem Bewegungstraining ist nichts einzuwenden, sofern man es bewusst tut. Eine Möglichkeit wäre: je 1 Session an 5 Tagen pro Woche. 1 Session besteht aus 2 Sets: 30 Sekunden Stretch, 30 Sekunden Pause, 30 Sekunden Stretch. Dabei nicht so weit gehen, bis es wehtut. Langsam rein und raus und nicht herumwippen. Ruhig atmen. Anatomische Zusammenhänge klären und was der Stretch soll. Und, ein weiteres Missverständnis selbst unter Spitzensportlern: Nicht zum Aufwärmen stretchen, sondern erst, wenn die Muskeln warm sind, zum Beispiel nach leichten Bewegungen bei mittlerem Tempo mit maximal 40 % Belastung. )